2. Mose 1, 15-22 9.11.2024 Alte Winzinger Kirche 15
Der ägyptische König gab eines Tages den hebräischen Hebammen – eine hieß Schifra, die andere Pua – den Befehl: 16 »Wenn ihr den Hebräerinnen bei der Geburt beisteht und am Geschlecht erkennt, dass es ein Junge ist, dann sollt ihr ihn töten; ist es ein Mädchen, lasst es leben.« 17 Aber die Hebammen verehrten Gott und taten nicht das, was der ägyptische König ihnen gesagt hatte. Sie ließen auch die männlichen Kinder am Leben. 18 Da bestellte Pharao die Hebammen zu sich und herrschte sie an: »Warum macht ihr so etwas, lasst die Jungen leben?« 19 Die Hebammen antworteten ihm: »Die Hebräerinnen sind anders als die ägyptischen Frauen. Sie sind stark und gesund. Bevor noch eine Hebamme zu ihnen kommt, haben sie schon geboren.« 20 Deshalb ließ Gott es den Hebammen gut gehen. Und das Volk wuchs und wurde immer stärker. 21 Weil die Hebammen also der Gottheit die Ehre gaben, stärkte sie deren Familien. 22 Pharao auf der anderen Seite wies sein ganzes Volk an: »Jeden neugeborenen Jungen werft in den Nil, alle Mädchen lasst leben!«
Liebe Gemeinde, der jüdische Glaube beginnt mit dem Exodus – dem Auszug aus Ägypten. Daran wird jedes Jahr am Pessachfest erinnert. So ähnlich wie wir an Pfingsten den Geburtstag der Kirche feiern. Bei der Beschäftigung mit dem Predigttext ist mir noch einmal neu bewusst geworden, dass zum Gründungsmythos des Judentums offensichtlich von Anfang auch dazu gehört, über Pogrome und Verfolgung zu erzählen. Schon sehr, sehr lange leben also Jüdinnen und Juden mit dem grundsätzlichen Gefühl, anders zu sein und nicht akzeptiert zu werden, nicht dazu zu gehören. Die Filme von Woody Allen zum Beispiel drücken das ja auch immer wieder sehr schön und selbstironisch aus. Leider hat dieses Anderssein sich aber im Laufe der Geschichte eben bekanntlich weit schlimmer gezeigt als nur durch Ausgrenzung. Immer wieder kam und kommt es zu Verbrechen gegenüber jüdischen Menschen nur aufgrund ihres Jüdischseins. Besonders grausam dann in der Shoa, dem systematischen Morden der Nazis. Wir denken auch voll Grauen an das Massaker, das die palästinensische Hamas vor etwas über einem Jahr in Israel angerichtet hat. Es gibt überall in der Welt Hass und Gewalt. Und auch Kriege zwischen unterschiedlichen Volksgruppen. Auch andere sind von Genozid betroffen. Das ist nicht schön, aber leider Realität.
Warum trifft es aber immer wieder gerade die Juden und Jüdinnen so heftig?
Das führt uns doch unweigerlich auch zu der Grundfrage: woher kommt denn der Judenhass? Die jüdische deutsche Dichterin Nelly Sachs formulierte es so: „Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“ Darüber haben sich sicher schon viele kluge Leute Gedanken gemacht. Aber so richtig erklären kann ich es mir jedenfalls nicht. In der Vorgeschichte zu unserem Predigttext wird zumindest eine mögliche Antwort darauf gegeben. Das Motiv des Pharaos ist Angst. Er sagt zu „seinen Leuten: „Seht doch, das Volk Israel ist zahlreicher und stärker als wir selbst. Lasst uns klug gegen sie vorgehen, damit sie nicht weiter wachsen und uns eventuell den Krieg erklären, sich zu unseren Feinden schlagen, gegen uns kämpfen und dann aus diesem Land auswandern.“ (1. Mose 1,9-10) Der Pharao fürchtet also die zukünftige Kriegsmacht seines Gastarbeitervolkes, das bis hierhin sehr nützlich gewesen war, und gibt deshalb hier den Befehl, alle männlichen Babys zu töten. Frauen wurden meist eher in das Gastland integriert, weil sie üblicherweise durch Heirat in die Familie ihres Mannes aufgenommen wurden.
Im Neuen Testament lesen wir im 2. Kapitel des Matthäusevangeliums sozusagen eine Gegengeschichte zu dieser hier. Da wird von König Herodes Soldaten der Befehl zum Kindermord gegeben, und diese führen den Befehl fraglos aus. Während die beiden Hebammen die Weisungen des obersten Gesetzgebers kritisch reflektieren und bewusst nicht befolgen und damit auf jeden Fall großen Ärger riskieren, gilt für die Soldaten: Befehl ist Befehl! Die beiden Hebammen müssen sich verteidigen, weil sie nicht töten. Das macht deutlich, dass der Pharao als nekrophil, also den Tod liebend, dargestellt wird. Die Pharaonen im alten Ägypten wurden als Götter verehrt. So macht die Bibel nun ganz deutlich den Unterschied klar. Israels Gottheit liebt das Leben.
So ganz nebenbei ist es auch spannend zu beobachten, dass in den Geschichten, die über die Anfänge des Volkes Israel erzählen, subversive Frauen eine wichtige Rolle spielen. Frauen, die sich über Befehle der Machthabenden hinweggesetzt haben und dadurch Leben geschützt und Gottes Heilsplan gedient haben. Man denke nur an die Mutter des Mose und seine Schwester, sowie sogar die Tochter des Pharao und eben auch hier Shifra und Pua. Im Gegensatz zum Befehl des Pharaos, die Jungen zu töten, werden in manchen Ländern der Erde heute weibliche Kinder umgebracht, meist schon im Mutterleib durch Abtreibung, weil die Leute lieber einen Sohn möchten. Zum Beispiel in China, wo die Kinderzahl begrenzt wird, passiert das häufig. Oder auch in Indien und anderen armen Ländern, in denen durch die herrschenden Traditionen Eltern bei der Geburt eines Mädchens Angst vor der zukünftigen finanziellen Belastung durch die Verpflichtung der Zahlung eines Brautpreises haben. Was menschenverachtende Grausamkeit angeht, hat die Menschheit leider seit biblischen Zeiten nur wenig positive Schritte gemacht. Deshalb ist es ja auch wichtig, immer wieder solche Gedenktage wie eben den 9.11. zu begehen. Damit wir uns erinnern und daran denken, welche lebensbejahenden Wege Gott für uns vorgesehen hat. Und welcher Auftrag für uns in den biblischen Geschichten enthalten ist. Nämlich uns einzusetzen für alles, was dem Leben dient. So wie es diese beiden mutigen Hebammen in unserer Geschichte tun. Diese beiden Frauen, die Widerstand leisten und sich Gottes Willen zum Erhalt des Lebens mehr verpflichtet fühlen als dem todbringenden Befehl des Pharaos. Frauen sind eben nicht immer nur Opfer.
Das waren sie auch damals in der Nazizeit nicht alle. Da haben viele kräftig zur Diskriminierung und auch Ermordung der Jüdinnen und Juden beigetragen. Im Kleinen wie im Großen.
Frauen haben auch heute immer wieder Möglichkeiten ihren Einfluss geltend zu machen, positiv wie negativ. Wir alle zusammen, liebe Gemeinde, Frauen und Männer, haben eine große Verantwortung, uns für das Leben stark zu machen und alles zu tun, was in unserer Macht steht um zu verhindern, dass Unmenschlichkeit und Gewalt den Sieg davon tragen. Die beiden Hebammen geben uns da ein gutes Beispiel. Es war ganz bestimmt nicht ungefährlich, was sie getan haben. Denn der Pharao war ja ein mächtiger Mann, dessen Befehlen man sich nicht so leicht widersetzen konnte. Schifra und Pua wagten es jedoch, denn sie gaben Gott die Ehre, so erfahren wir hier. Ihre ureigenste Berufung als Hebammen ist es doch, Kindern zum Leben zu verhelfen und so dem Leben zu dienen, nicht es zu zerstören. Voller Überzeugung und Gottvertrauen erfüllen sie diese Aufgabe und kommen auch glücklich davon. Sie müssen zwar dem Pharao Rede und Antwort stehen, warum sie seinen Befehl nicht ausgeführt haben, aber es geschieht ihnen nichts. Dabei machen sich die beiden Hebammen die Vorurteile des Pharaos zunutze. Er denkt, dass die hebräischen Menschen anders sind. Deshalb glaubt er auch, was ihm die beiden vorflunkern. Dass die hebräischen Frauen gar keine Hilfe beim Gebären brauchen. Das ist vermutlich nicht wahr. Denn alle, die wissen, wie es bei einer Geburt zugeht, sind sich auch bewusst darüber, welch wichtige Rolle dabei der Hebamme zukommt. Nicht umsonst waren die Hebammen in alten Kulturen hoch geachtete weise Frauen, die ein großes Wissen über Heilkunde und über Leben und Tod besaßen. Sie besaßen in manchen Kulturen sogar so etwas wie eine liturgische Funktion. In der keltischen Spiritualität war es zum Beispiel üblich, dass die Hebamme und die Mutter das Neugeborene segneten. Es wurde die „erste Taufe” genannt. Auch wir heutzutage wissen sie wieder zu schätzen und möchten sie bei einer Geburt nicht missen.
Schifra und Pua, jedenfalls, schützen das Leben und werden letztendlich dafür von Gott belohnt. Sie erfahren Segen in ihren Familien.
Auch wir können an vielen Stellen, bei vielen Gelegenheiten etwas tun, was das Leben schützt. Das ist vielleicht nicht immer so spektakulär wie bei Schifra und Pua. Aber wir alle haben bestimmt schon oft dazu beigetragen, dass dem Leben geholfen wurde. In unseren Familien, an unseren Arbeitsplätzen. Da liegt auch weiterhin unsere Aufgabe. In der Erziehung unserer Kinder und Enkelkinder zu friedlichen Lösungen, indem wir ein gutes Beispiel vorleben und indem wir den Mund aufmachen und protestieren, wann immer wir das Gefühl haben, hier geschieht etwas, was das Leben gefährdet – sei es im privaten oder im politischen Bereich.
Wir müssen alles daran setzen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Das ist uns ja gerade in der letzten Zeit wieder sehr deutlich geworden. Die antisemitischen Übergriffe haben stark zugenommen, rassistische Sprüche gegenüber allen, die irgendwie anders sind, sind überall zu hören und zu lesen. Veranstaltungen mit jüdischen Menschen brauchen bei uns Polizeischutz.
Das darf doch nicht wahr sein, liebe Gemeinde. Das können wir doch nicht einfach so hinnehmen, dass jüdische Menschen in unserem Land nicht sicher sind. Nie wieder ist jetzt!
Liebe Gemeinde, auch uns sollte man anmerken, dass wir an Gott glauben und dass wir deshalb manchmal anders sind als andere. Dass für uns andere Gesetze gelten und uns das mit Jüdinnen und Juden verbindet. Denn der, auf den wir uns berufen, Jesus Christus, der immerhin auch Jude war, hat doch immer wieder ganz deutlich gesagt, wie sehr wir uns unterscheiden sollten, von dem, was landläufig üblich ist:
5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. 6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. 7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. 9 Selig sind die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. 10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt wer den; denn ihrer ist das Himmelreich. Amen